Seona
Die Geburtsstunde der Schwul-Lesbischen Aktionsgruppe, die 1994 den ersten CSD in Bielefeld auf die Beine stellte, war nicht primär von politischer Motivation getrieben. Sie entsprang vielmehr einem tiefen Interesse am "Anderen" und Unbekannten. Mit der Eröffnung des Lokals Magnus in Bielefeld trafen zum ersten Mal locker und regelmäßig offen lebende Schwule und Lesben aufeinander, doch zunächst ohne sich gegenseitig zu kennen oder auszutauschen. Die Szenen waren zu dieser Zeit sehr voneinander abgeschottet. Dieser Umstand erschien mir plötzlich befremdlich und unverständlich. Aus dieser Situation heraus hatte ich die Idee, ein gemeinsames Projekt ins Leben zu rufen, um einander kennenzulernen. Gemeinsam mit einer Freundin lud ich per Flugblatt zu einem ersten Treffen ein, und schnell formierte sich ein Team von etwa 20 begeisterten Lesben und Schwulen.
Bis dahin hatte ich persönlich keinen einzigen Schwulen in meinem Leben gekannt. Es war unglaublich spannend und bereichernd zu erleben, wie sich während der gemeinsamen Arbeit in den folgenden Monaten neue und enge Freundschaften über vermeintliche Grenzen hinweg entwickelten. Diese Erfahrung hat mich nachhaltig geprägt, und bis heute bin ich fest davon überzeugt, dass Unterschiede aus dem Blickfeld geraten, wenn man aufeinander zugeht und das Menschliche in den Vordergrund stellt. Es geht nicht um Gleichmacherei, sondern um gegenseitige Anerkennung und Respekt auf der Grundlage gemeinsamer Werte und des voneinander Lernens.
In den ersten Monaten sahen wir uns mit festgefahrenen Strukturen und gegenseitigen Vorurteilen konfrontiert. Während wir in der Szene nach Verbündeten und aktiven Mitstreitenden suchten, stießen wir auf der Lesbenseite zunächst auf wenig Resonanz. Die Zusammenarbeit wurde skeptisch beäugt und von Ängsten begleitet. Viele Frauen fürchteten, die mühsam erkämpften Sicherheitsräume (auch die rein mentaler Natur) wieder zu verlieren. Auf der Schwulenseite hingegen versuchte eine rein männliche Gruppe nach patriarchalischer Manier, das Zepter zu übernehmen. Sie gründeten hinter unserem Rücken einen eigenen Verein und planten den CSD nach ihren Vorstellungen, ohne Rücksprache mit uns.
Trotz all dieser Hindernisse hielten wir an unserer Vision des "Zusammen" fest und setzten uns in schwierigen Diskussionen durch. Unsere Bewegung wuchs und gewann an Kraft. Nur so konnte unser Team zu einer starken Truppe heranwachsen und eine neue, selbstbewusste Sichtbarkeit für Lesben und Schwule in der Öffentlichkeit schaffen. Dies mündete in einem fulminanten ersten Bielefelder CSD.
Es erfüllt mich mit Stolz, dass wir damals den entscheidenden Schritt gewagt haben und trotz aller Widerstände an unserer Vision festgehalten haben. Der erste CSD hatte bahnbrechende Auswirkungen und führte zu einer bunten und starken Bewegung, die unsere Vision weitertrug und weiterentwickelte. Heute besitzt Bielefeld eine lebendige und sichtbare LGBTQIA+-Szene. Ich danke allen, die dazu beigetragen haben!
April 2024
Hier noch ein Link auf bielefeld.de zu einem aktuellen Interview: www.bielefeld.de/node/7871