Friederike
1993 Herbst
Mein erstes Semester in Bielefeld, alles war neu. Erste WG, die ersten Vorlesungen, die Uni, neue Freundschaften, meine Welt war im Aufbruch. Wie an so vielen Tagen trafen sich alle an „der Treppe“, Verabredungen waren nicht nötig - in der Uni war es die Treppe, an den Wochenenden meist das FraZe, da gingen irgendwie alle Frauen hin (von anderen Geschlechtern sprach kaum jemand), innerhalb der Woche traf man sich im Magnus.
Dann kam Seona und sprach mich an und meinte, dass ich bestimmt mitmachen möchte. Beim CSD. Hmm… Es war Herbst, die Diskussionen in der Schwul-Lesbischen Aktionsgruppe in vollem Gange, noch eine neue Welt und ein extrem bunter Haufen von Menschen. Und was nicht alles diskutiert wurde! Alles - alles kam „auf den Tisch“ - von Tampons und Kondomen, HIV, AIDS, Leben und Sterben, Feiern, Sex und Liebe, Parks und Darkooms, Diskriminierung und Gewalt, Coming-Outs, Kultur und Politik und natürlich der CSD. Wir lachten und weinten, ärgerten uns, vielleicht hassten wir uns auch manchmal etwas, aber eigentlich liebten wir uns. Wir entdeckten Gemeinsamkeiten von Lesben und Schwulen, alle anderen waren auch Thema, aber nicht wirklich präsent - Widerstände und Gegensätze und auch die negativen Äußerungen von manchen Lesben waren Thema, ein paar Schwulen meinten es besser machen zu können, Anfeindungen gab es aber von vielen Seiten. Unsere Gemeinschaft stärkte unsere Überzeugungen.
Wir eroberten unseren gemeinsamen Raum, planten den CSD, diskutierte in der Magnus Kneipe den gewählten Weg, lernten Gruppen und Menschen kennen, ernteten Unverständnis und Zustimmung in der Szene. Der CSD war uns einfach zu wenig. Wir wollten die bunte, vielfältige Szene sichtbarer machen und Gemeinschaft schaffen, neue Selbstverständlichkeiten. Zu einer Zeit, in der der §175 zwar abgeschwächt, aber noch nicht komplett abgeschafft war. In der die Ehe nur für Heterosexuelle war und andere Lebensgemeinschaften verurteilt wurde, in der Menschen aufgrund eines Coming Outs ausgeschlossen und verstoßen wurde, vermutlich noch mehr als heute und in der es natürlich Lesben und Schwule gab, sie aber in der Öffentlichkeit eigentlich unsichtbar waren. Über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt wurde nicht gesprochen, in den meisten Filmen starben homosexuelle Menschen durch Selbstmord, es gab kaum Vorbilder und kein Internet.
Politiker*innen standen „uns“ eher ablehnend, abwehrend und diskriminierend gegenüber, Unterstützung gab es wenig. Aber, es war die Zeit für Veränderung. Und eine Zeit der Gemeinschaft. Gemeinsam sind wir stärker. Vielfalt ist bereichernd und machte uns Freude.
CSD 1994
„Gegen heterosexuelle Ignoranz“ - das Motto drückt unsere Stimmung aus. Die Freiheit, so zu leben, wie wir sind, frei und gleich. Und der CSD war wie ein Rausch. Es wurde demonstriert und gefeiert und wir waren laut und sichtbar, Selbstbewusst und glücklich. Mit 1.000 Personen fühlten wir uns als wären es Millionen. Wir haben uns getraut, gegen alle Widerstände. Blicke und Kommentare prallten ab. Mein erster CSD war mir eine große Freude. Wir waren angekommen und sichtbar.
Der Sekt am Abend war nach einer Stunde ausverkauft, trotz großer Bestellmenge im Kühlwagen. Es war eine Befreiungsfeier, zumindest an diesem Abend. Die Realität holte uns im Alltag wieder ein - unseren ersten CSD in Bielefeld aber konnte uns aber niemand mehr nehmen.
Mai 2024